Die Verantwortung des Menschen für seine Taten wurde in der europäischen Philosophie bereits seit ihren griechischen Anfängen sehr oft, direkt oder indirekt, erörtert. Da die antike Literatur als nahezu allseitig erforscht gilt, gibt sich heute kaum jemand die Mühe, hier nach Autoren zu suchen, die bezüglich dieses Themas eine immer noch zu wenig bekannte bahnbrechende Arbeit leisteten. Dabei gibt es klassische weltbekannte Texte, die es verdienen, auch unter diesem Gesichtspunkt gelesen zu werden*.

Die heutige Philosophie der Verantwortlichkeit beschäftigt sich hauptsächlich mit der Verantwortung des Menschen für seine natürliche Umwelt. Sie geht davon aus, daß er kein Recht hat, den nächsten Generationen eine zerstörte Natur zu überlassen. Auch durch diesen ihren ökologischen Akzent wird sie nur selten in ihrem Bezug zur Philosophie der alten Griechen rezipiert. Die Alten haben ja noch nicht gemerkt, dass der Mensch die Natur beschädigen kann. Dabei ist trotz aller Unterschiede die Verwandtschaft zwischen der modernen und antiken Verantwortlichkeitsphilosophie - wie bereits angedeutet - eine sehr nahe.

 

 

 

In unserer Zeit vertrat eine auf Verantwortung ausgerichtete Philosophie vor allem der deutsche Religionswissenschaftler und Moralphilosoph Hans Jonas (1903-1993). Aufmerksamkeit weiterer Leserkreise gewann er erst durch seinen Bestseller ‚Das Prinzip Verantwortung‘(1979), dem einige Jahre später - als eine gedankliche Fortsetzung - ,Technik, Freiheit, Pflicht‘(1987) folgte. Viele Einsichten, die Jonas in diesen Büchern formulierte, hatte er in seinen viel früheren Untersuchungen erarbeitet. Bereits 1934, in seiner Doktordissertation u.d.T. ‚Gnosis und spätantiker Geist‘, untersuchte er die fortschreitende Entzweiung von Ich und Welt. Er betrachtete diesen Prozess als unvermeidbar und für die menschliche Existenz spezifisch. Zugleich hoffte er, dass eine ontologische Auslegung biologischer Phänomene zur Überwindung der immer tiefer werdenden Kluft zwischen Mensch und Welt beitragen kann. Er strebte eine ‚Philosophie des Organischen‘ an - sie sollte dem Anthropozentrismus der abendländischen Philosophie entgegenwirken. In menschlicher Freiheit sah Hans Jonas eine Chance auf eine Identitätsfindung und Selbstbestimmung, wodurch das Leben der Menschen in ihren Beziehungen untereinander und ihrer Einstellung zur Welt eine ganzheitliche Ausrichtung erhalten kann. In diesem philosophischen Kontext reflektierte er über die tödlichen Risiken, die in unseren Zeiten von der Entwicklung der Wissenschaft und Technik ausgehen. Sein Prinzip Verantwortung für die kommenden Generationen verstand er auf der Ebene des menschlichen Handelns vor allem als Selbstbescheidung und Einschränkung des Konsums.

 

 

 

Das Ziel des heutigen Vortrags ist es, zu zeigen, dass die Gefahr dessen, was viel später der deutsche Philosoph als Entzweiung zwischen Ich und Welt bezeichnete, bereits in der antiken griechischen Literatur wahrgenommen worden war. Dieses soll hier am Beispiel eines Denkers gezeigt werden, der in fast keinem Kompendium der Philosophie-geschichte erwähnt ist.

 

 

 

Es ist damit der große Tragiker und eigentliche Begründer der Tragödie als literarischer Kunstform – der berühmte Aischylos gemeint. Er lebte im sechsten und fünften Jahrhundert v.Ch. (525-456), zwei und ein halb Jahrtausend früher als Hans Jonas.

 

 

 

Aischylos verfasste keine philosophischen Traktate. In seinen Dramen schnitt er aber Themen an, die einen par excellence philosophischen Charakter hatten. Es waren philosophische Themen, die in einem engen Bezug zur altgriechischen Mythologie und Theologie wichtige moralische Botschaften ausdrückten. Die wichtigste von ihnen lautete: der Mensch soll Mittelmaß bewahren, die ewigen göttlichen Gesetze hochachten, sich nicht gegen das Notwendige erheben und im Einklang mit dem Ganzen leben. Mit diesem Ganzen meinte Aischylos sowohl die eigene Gesellschaft, der ein Individuum angehört, als auch die ganze Erde und den ganzen Kosmos.

 

 

 

Auch eine Humanitätsbotschaft läßt sich mit diesem Postulat verbinden: Aischylos war der erste, der den Begriff der Philanthropie benutzte, und zwar als einer wohlwollenden Einstellung der Götter zu allen Menschen. Der Mensch, die Gesellschaft, die Menschheit als Ganzes seien den selben Gesetzen unterordnet, wie die gesamte Welt. Dies widerspiegele sich in der Handlungsweise des mächtigsten Gottes Zeus, der menschenfreundlich, aber auch im Einklang mit Schicksal und Notwendigkeit handele.

 

 

 

So kann man Aischylos‘ Morallehre kurz zusammenfassen. Schauen wir, welche Worte und Begriffe er selber benutzte, um diese seine Lehre zu formulieren und sie zu begründen. Es gilt zu diesem Zweck, Kontakt mit allen seinen Dramen wiederaufzunehmen, mit ‚Perser‘, ‚Prometheus‘ und allen drei noch vorhandenen Teilen der ‚Orestie‘ (‚Agamemnon‘, ‚Choerophoren‘ und ‚Eumeniden‘), aber auch mit ‚Hiketiden‘ und ‚Sieben gegen Theben‘.

 

 

 

Fangen wir mit dem positiven Teil seiner Moraldoktrin zu Mensch und Gott an, mit dem Postulat der Maßhaltung, das später in der Formulierung meden agan (nie zuviel) so populär wurde. Aischylos drückte dieses Postulat öfters indirekt aus, aber hauptsächlich mit dem Wort Sophrosyne, das einige miteinander verbundene Bedeutungen hatte. Außer Maßhaltung oder Mäßigung bedeutete Sophrosyne vor allem Besonnenheit und Vernunft und außerdem Bescheidenheit und Demut. Sie führte zur Anerkennung einer höheren Ordnung, der sich Menschen fügen sollten. Hinzu gehörte unter anderem der Gehorsam gegenüber Gesetzen eines Staates. Nicht unmittelbar, aber sehr stark, betonte Aischylos diesen Aspekt der Sophrosyne in ‚Eumeniden‘, dem dritten Teil der ‚Orestie‘. Mit dem Geist seiner Zeit übereinstimmend verstand er Sophrosyne auch theologisch - als Ehrfurcht gegenüber den Gesetzen des mächtigsten Gottes Zeus, der in ‚Hiketiden‘ fast monotheistische Züge trug. Seine Macht bestand darin, dass er die Fügungen des Schicksals kannte und, wie erwähnt, im Einklang mit ihnen handelte. Diesem Glauben nach meinte der Chor in ‚Agamemnon‘, die höchste Weisheit werde derjenige Mensch erreichen, der aus seinem ganzen Herzen den siegreichen Zeus verehre, wobei die gewonnenen Einsichten durch ein Leiden erlangt werden müssen (to pathei mathos). Wenn Zeus gegen einen Sünder - wie in ‚Agamemnon‘ gegen Orestes - Rachegöttinnen, die Erinnyen, schickt, handelt er als Gerechtigkeit – Dike. Wenn er ein Schicksal zur Erfüllung bringt, scheint er die Notwendigkeit, Ananke, zu sein. Da der handelnde Mensch sich zwischen diesen zwei Polen hin und her bewegt, gerät er in eine tragische Situation hinein. Dieser seiner Doppelrolle ist Zeus überlegen, wenn er als Zeus teleios alles zu Ende führt, was er vorhatte, er ein Wächter der Richtigkeit und Weltordnung, als sozusagen das erste teleologische Prinzip.

 

 

 

Wie zu sehen ist, bildeten bei Aischylos theologische und teleologische Begriffe mit den kausalen Erklärungsmöglichkeiten eine organische Einheit: Menschen und Götter sollten Ziele verfolgen, die den Fügungen des Schicksals entsprachen, wie der größte und mächtigste Gott, Zeus, immer mit Schicksal übereinstimmend handelte. Das Schicksal, Ananke, wurde dabei nicht nur religiös, sondern auch als Notwendigkeit der Naturgesetze verstanden. Dementsprechend waren Strafen für eine Verletzung der natürlichen Ordnung zugleich als notwendige Folgen einer solchen Tat zu begreifen. Moralische und religiöse Ordnung in der Welt ließen sich von der objektiven Ordnung der Naturgesetze nicht inhaltlich unterscheiden, da sie lediglich verschiedene Aspekte eines und desselben Sachverhalts bedeuteten. So war Zeus, trotz aller seiner Menschenähnlichkeit, als ein Richter und Machthaber angesehen, der völlig objektiv und gerecht handelte. Genauso objektiv und kausal konnten auch die positiven Seiten einer Strafe verstanden werden - nicht nur als Ausführung einer erzieherischen Maßnahme Gottes. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Sinne brachte eine Strafe dem Bestraften eine Chance, durch Unglück und Leiden zu einer ‚heilsamen Belehrung‘ und zu Vernunft zu gelangen. Dabei hielt Aischylos auch für möglich, dass ein Mensch zur Sophrosyne gegen den eigenen Willen gebracht wird.

 

 

 

Wie kommt es aber dazu, dass Menschen eine höhere Ordnung verletzten? Manche – antwortet Aischylos – tun es, weil sie einer momentanen Verdunkelung des Geistes unterliegen, beispielsweise durch Einmischung eines ihnen nicht geneigten Gottes. Andere begehen böse Taten, weil sie in Unwissenheit handeln. In beiden Fällen werden sie einer Hybris schuldig, was einen wichtigen Bestandteil des Tragischen bei Aischylos ausmacht. Ein Mensch kann also eine miese Tat auch dann begangen haben, wenn er keine bösen Absichten hatte. So erging es zum Beispiel Ödipus, der sich - ohne es zu wissen - des Beischlafs mit seiner eigenen Mutter schuldig machte. In bezug auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, gegen eine höhere Ordnung gehandelt zu haben, kann man zur Bestimmung der Ursache Irrtum als die beste Erklärung ansehen. So tat auch später Aristoteles, als er in seiner ‚Ars Poetica‘ über die Ursachen des Unglücks in der literarischen Konvention der griechischen Tragödie reflektierte: Leiden und Unglück bricht bei den Tragikern über einen anständigen und geachteten Menschen herein, der zwar nicht perfekt ist, aber einen wesentlichen Irrtum begangen hat.

 

 

 

Zu solch einem bewußten oder unbewußten Irrtum führt bei Aischylos die Wahl einer extremen Handlungsweise, wodurch der Sophrosyne widersprochen wird. Unter anderem führe dazu eine verfehlte Einstellung zur Macht, denn „weder ein Leben ohne Macht, noch ein Schicksal eines Sklaven ist lobenswert – Gott schenkt den Sieg nur der Mitte“. Vor allem aber entstehe ein Irrtum wegen eines falschen Maßes an Angst. Durch zu viel Angst handele der Mensch genauso verkehrt, wie durch ihr Gegenteil, wenn ihn der Hochmut, die Hybris, beherrsche: dem Hochmütigen mangele an Ehrfurcht gegenüber Werten, die über ihm stehen, wie beispielsweise eine gerechte politische Ordnung.

 

 

 

Auch war sich Aischylos jenes Hochmuts bewußt, der sich zum Wort melden kann, wenn Menschen ihre technischen Fertigkeiten nutzen. An sich war er kein Gegner ihrer Anwendung im Leben, und in seinem ‚Prometheus‘ gibt es einige schöne Worte zu menschlichen Begabungen, die sich als ihr Lob verstehen lassen. Er warnte aber davor, erlaubte Grenzen zu überschritten werden, und in dieser Hinsicht war er nach unseren heutigen Begriffen sehr restriktiv. Es kann hier an seine ziemlich bekannte Kritik gegenüber dem persischen König Xerxes (um 519 –465) erinnert werden: Der König habe einige große Fehler begangen, die als Hybris zu bezeichnen seien. Er überfiele Athen (480), obwohl das Schicksal wollte, dass dieser Staat auf Meeren herrschte. Er sündigte schwer auch dadurch – und dieser Vorwurf interessiert uns besonders - dass er eine Brücke über Hellespont bauen ließe. Denn auf diese Weise versuchte er, ein Meer zu unterjochen, wodurch er eine natürliche Ordnung verletzte. Seine Tat sei auch als Merkmal einer Geisteskrankheit (nosos phrenon) zu verstehen.

 

 

 

Aischylos war der erste große Dichter des alten Griechenlands, der eine naturwidrige Handlung anprangerte, in der die technischen Errungenschaften eine Rolle spielten. Zugleich, wie bereits erwähnt, äußerte er sich in ,Prometheus‘ zu technischen Fertigkeiten des Menschen recht positiv. Sein begabter Schüler Sofokles (um 496 - um 406), der mit der Zeit nicht weniger als er berühmt wurde, widmete dem menschlichen Können, das nicht eindeutig bewertet werden kann, einige poetische Verse, die bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben. Damit ist hier jener ziemlich bekannter Monolog gemeint, den Antigone in der gleichnamigen Tragödie zu menschlichen Begabungen hält: voller Bewunderung preist sie die Vernunft des Menschen und seine Macht gegenüber der Natur; direkt danach, in einer Entgegenstellung, warnt sie ihn davor, diese seine Macht gegen sich selbst zu wenden. Seit jener Zeit tauchte in der antiken Literatur dieses Thema immer wieder auf, sie bezog sich öfters auf die Erfindung und Nutzung des Schiffes. Dabei klangen bei manchen Autoren die kritischen Töne lauter, als die lobenden. Dies war beispielsweise bei dem römischen Dichter Catull (um 84-um 54) der Fall, der eins seiner Gedichte der mythischen Schifffahrt der Argonauten widmete. Es kam hier übrigens ein neues Motiv hinzu – Geldgier als Motor unheimlich großer menschlicher Anstrengungen.

 

 

 

Aber kehren wir zu Aischylos und zu seiner nicht eindeutigen Einschätzung des menschlichen Könnens zurück. Denn eine ähnlich ambivalente Bewertungsweise zeigt sich auch in seinen Äußerungen zu freien Entscheidungen des Menschen, die es möglich machen, dass das menschliche Denk- und Handlungsvermögen richtig oder falsch genutzt wird.

 

 

 

Im Prinzip hielt Aischylos lediglich eine solche Nutzung der Freiheit für richtig, wo handelnde Personen gegen Schicksal und Notwendigkeit nicht revoltieren. Demgemäß betonte er die negativen Folgen von Taten, die als eine solche Revolte zu verstehen waren. Von dieser Seite wurden die besagten unklugen Taten von Xerxes dargestellt: Sie verletzten den natürlichen Unterschied zwischen Meer und Kontinent; sie mißachteten auch eine natürliche Machtteilung unter den Staaten, die gemäß ihrem Schicksal entweder auf einem Kontinent wie Persien oder wie Athen auf den Meeren herrschen sollen; durch dieses unüberlegte Handeln ihres Königs erlitten Perser ein vielfaches Unglück. Im Einklang mit demselben Gebot, sich gegen Schicksal nicht aufzulehnen, schilderte Aischylos in ‚Sieben gegen Theben‘ die heldenhafte Entscheidung von Eteokles: obwohl Eteokles wußte, dass er sterben musste, akzeptierte er dieses Schicksal und dadurch konnte er seine Stadt retten, ein Beispiel eines recht tragischen Schicksals.

 

 

 

Was in diesem ganzen gedanklichen Kontext überraschen kann, ist die Feststellung, dass bei Aischylos nicht jede Tat, die dem Schicksal widerspricht, lediglich böse Folgen hat. Nur Strafen für solche Taten kommen immer, oder fast immer. Sehen wir uns wieder einige Beispiele an. Laios, der Großvater von Eteokles in derselben Tragödie ‚Sieben gegen Theben‘, widersprach dem apollinischen Orakelspruch, dass er keine Kinder zeugen dürfe, wenn er seine Stadt retten wolle, und zeugte einen Sohn, Ödipus. Für seine Tat mußte zwar Laios sterben, aber gerade durch Ödipus wurde die Stadt gerettet. Ähnlich war der Sachverhalt in der Geschichte des Titans Prometheus, der zuwider dem Schicksal und dem Willen von Zeus den Menschen Feuer, Kultur und technische Fertigkeiten schenkte. Für dieses Vergehen, das er völlig bewußt aus reiner Philanthropie begangen hatte, mußte Prometheus eine sehr grausame Strafe erleiden. Was aber hier zu betonen ist, trotzt dieser Strafe bestanden die Folgen seiner Tat uneingeschränkt weiter. Was auch wichtig ist, sie wurden von Aischylos eher positiv als negativ eingeschätzt.

 

 

 

Diese nicht lediglich auf Notwendigkeit und Gerechtigkeit ausgerichtete Lehre zu Folgen falscher Taten wurde noch menschlicher durch die Einsicht, dass in Ausnahmefällen ein Verursacher eines Übels straffrei gesprochen werden darf. Es ist damit der Gerichtsspruch Athenes in ,Eumeniden‘ gemeint, den sie zum Schluss des unter ihrem eigenen Vorsitz geführten Prozesses gegen Orestes verkündigen ließ. Orestes, eine mythische in der altgriechischen und späteren Literatur sehr populäre Gestalt, war bei Aischylos – wie in allen früheren Überlieferungen - der Sohn von Agamemnon und Klytämnestra, die ihren Mann mit Hilfe ihres Liebhabers ermordete. Angestiftet von Apollo, beschloss Orestes, den Vater zu rächen und die Mutter zu töten. Trotzt eines innerlichen Widerspruchs tat er das, völlig bewusst der Abscheulichkeit seiner Tat. Zu diesem Verbrechen fühlte er sich nicht nur durch Apollos Befehl, sondern auch durch andere Instanzen gezwungen: er gehorchte den väterlichen Erinnyen sowie der die Dike des Vaters – einer ihm gebührenden Gerechtigkeit. Gemäß dem traditionellen Gerechtigkeitsgefühl der Griechen, das noch in der Zeit von Aischylos sehr lebendig war, war jetzt zu erwarten, dass nach der Ermordung Klytämnestras, sich auch ihre Erinnyen zum Wort melden und auch ihre Dike ausgeübt wird. So müsste früher der später auch Orestes getötet werden, der irgendwann ebenso seinen Rächer finden würde. Um dieses zu vermeiden und eine unendliche Kette von Missetaten zu unterbrechen, sprach eben Athene Orestes straffrei, und nur aus diesem Grund sollte seine Straffreiheit trotz seines abscheulichen Verbrechens von Menschen geduldet werden.

 

 

 

Ohne ein spezielles Wort dafür zu haben, empfiehl hier Aischylos seinen Mitbürgern eine tolerante Haltung, die als Gebot eines verantwortungsvollen Handelns zu verstehen ist. In Begriffe unserer Zeit ,übersetzt‘ scheint folgende Formulierung richtig zu sein: er wies auf nicht richtige Zustände hin, die trotz ihrer Nachteile geduldet werden sollen, weil ihre strafrechtliche Bekämpfung zu hohe moralische Kosten verursachen würde. Auch in seiner Themenwahl war Aischylos ein Philosoph der Verantwortlichkeit, worauf schon das oben erwähnte Thema der Gefahren hindeutete, die bei Nutzung der Freiheit entstehen. Er zeigte in seinen Dramen immer wieder, wie vielfach und komplex die Folgen einer falschen Tat sein können, und zwar dass sie sich fast nie auf ihren Ausführer beschränken. Jedes Verbrechen tendiere dazu, sich unendlich zu verbreiten: eine alte Hybris gebäre eine neue, früher oder später, „wenn die Zeit für die neue Geburt gekommen sei“, begleitet von „Verblendung (ate), der unsichtbaren, unheiligen“. Dabei leiden für eine Missetat nicht nur die Nachkommen des Täters, sondern auch, in vielen Fällen, alle Bürger seines Staates. So trug für die Entscheidung von Pelasgos (in 'Hiketiden') sein ganzer Staat die Verantwortung, ähnlich wie von der heroischen Entscheidung des Eteokles in ('Sieben gegen Theben') der ganze Staat profitierte. Auch mussten alle Untertanen Agamemnons die negativen Folgen seines Kriegszuges ertragen. Der selben Regel nach wurde ganz Persien für die Hybris ihres Königs Xerxes bestraft.

 

 

 

In seinen Reflexionen zum Thema Verantwortung äußerte Aischylos auch die Einsicht, dass unerwünschte, manchmal tragische Folgen jede menschliche Tat haben kann. Dies verband er eng mit dem, was wir heute als die menschliche Kondition bezeichnen, und er hoffte nicht, dass die Hybris prinzipiell aus dem Leben des Menschen zu beseitigen ist. Trotzdem hielt er für sinnvoll, vor den häufigsten menschlichen Fehlern zu warnen, unter anderem vor einem nicht notwendigen Krieg: Alle Kriege bergen in sich unberechenbare Gefahren, vor allem aber diejenigen, die sich zum Ziel setzten, fremde Gebiete zu erobern. Dabei war Aischylos in seiner Lehre zu Folgen schlechter Taten gewissermaßen ein Optimist: wie bereits erwähnt, glaubte er, dass Menschen durch erlittenes Leid und Unglück in der Lage seien, ihre Fehler einzusehen und in manchem Fall auch zur Vernunft zu gelangen. Dieser seiner Glaube trug bestimmt zu der ihm eigenen Haltung bei, die man als Verpflichtung zur Warnung nennen kann.

 

 

 

Eine derartige Verpflichtung verband Aischylos mit einer traditionellen Weltanschauung; ihr gemäß unterliegen sowohl Menschen als auch Götter denselben Gesetzen, wie der ganze große Kosmos, weil sie mit ihm eine Einheit bilden, als Teile eines und desselben Organismus. Besonders stark betonte er die gesellschaftlichen Bindungen des Menschen: er betrachtete ihn nie als ein alleinstehendes Individuum, sondern immer als einen integralen Teil der Gemeinschaft und des Staates. Dabei führte ihn sein Patriotismus, seine Heimatliebe zu Attika, nicht zum Hass oder Schadenfreude gegenüber dem besiegten Feind. Die Art und Weise, wie er in seinen ,Perser‘ über den persischen Staat und das persische Volk sprach, macht dies deutlich. Hinzu kamen noch zahlreiche Äußerungen im Geiste der griechischen Philanthropie, deren größter Wegbereiter Aischylos selber war. So sind seine Tragödien das älteste griechische Beispiel dafür, wie Menschenfreundlichkeit und eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Welt - voller Ehrfurcht ihr gegenüber - eine harmonische Einheit bilden können.

 

 

 

In bezug auf diesen gedanklichen Kontext und Inhalt seiner Warnungen kann Aischylos als der erste große europäische Autor angesehen werden, der – um auf die von Hans Jonas benutzte Formulierung zurückzukommen – auf die Gefahr einer Entzweiung zwischen Ich und Welt hingewiesen hat. Mit Worten und Begriffen seiner Zeit warnte er unter anderem vor einer Handlungsweise, in der die Zugehörigkeit jedes Individuums zu seiner Gemeinschaft nicht richtig wahrgenommen wird. Vor allem aber machte er durch Beispiele eines durch Hybris geprägten Handelns seine Zuschauer auf die Gefahr aufmerksam, dass sich ein Mensch von jener höheren Ordnung entzweie oder distanziere, die für die ganze Natur genauso richtungsweisend und maßgebend sei, wie für den Menschen.

 

 

 

Die Tendenz zu solch einer Entzweiung fand übrigens eine philosophisch-theoretische Begründung ziemlich bald, noch 5. Jahrhundert vor Christi, in den Lehren von Sophisten. Die meisten von ihnen meinten, die ethischen Regeln des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens hätten lediglich einen konventionellen Charakter; ethische und gesetzliche Normen hätten also keinen Bezug zu einer höheren Ordnung, die auch außerhalb der Gesellschaft gültig wäre. Es gab auch Sophisten die trotz derartiger Ausgangspunkte behaupteten, dass auch von der Natur zu lernen sei, aber von den in ihr herrschenden Zuständen leiteten sie eine ganz neue Regel ab: das Recht und die Macht des Stärkeren. Freilich, es mangelte unter Sophisten auch nicht an welchen, die sich für die Rechte der Armen einsetzten; sie schätzten aber gesellschaftliche Verhältnisse, die sich auf eine richtige Konvention stützen, viel höher, als eine Gesellschaftsordnung, die den Gesetzen Natur ähnlich sein sollte. Der bald gekommene Widerspruch seitens Platons änderte daran nichts, dass – wie aus dem oben Gesagten zu ersehen ist - eine Entzweiung von Mensch und Welt schon in der klassischen Antike bemerkbare Fortschritte machte.

 

 

 

So stellt sich zum Schluss die Frage: wieso trotz dieser bis zu unserer Zeit reichenden Entzweiung zwischen Individuum und Welt tauchen immer wieder Autoren auf, die uns an unsere Zugehörigkeit zur Gesellschaft, zur allgemeinmenschlichen Gemeinschaft und zugleich zur Natur erinnern wollen. Insbesondere kann man fragen, was solche Gestalten wie Aischylos und Hans Jonas gemeinsam hatten, wenn sie trotz ihrer riesengroßen zeitlichen Entfernung Lehren verbreiteten, die in mancher Hinsicht wesentliche gemeinsame Merkmale aufzeigten. Denn es genügt nicht darauf hinzuweisen, dass Hans Jonas zweifellos alle Dramen von Aischylos gelesen hat. Auch Hinweise auf Faktoren aus dem Bereich der politischen Atmosphäre reichen hier nicht aus, obwohl gewisse Ähnlichkeiten ins Auge fallen. Beide Autoren hatten genug Grund dazu, sich um die Stabilität der Demokratie in ihren Ländern Sorgen zu machen - auch im damaligen Athen hatte die demokratische Ordnung noch keine tiefen Wurzeln. Beide Männer haben außerdem an einem grausamen Krieg als Soldaten teilgenommen, was zu einer Verstärkung früherer Lebenshaltungen führen konnte.

 

 

 

Vielleicht darf man im allgemeinen von philosophischen Verwandtschaften sprechen, die nur zum Teil durch ähnliche gesellschaftliche Lebensbedingungen verursacht werden. Möglicher-weise sind hier neben äußeren Einflüssen und gedanklichen Traditionen Verwandtschaften am Werk, die sich als eine ähnliche philosophische Persönlichkeit bezeichnen lassen und in jeder Zeit zu finden sind. So gibt es in jeder Zeit unter anderem auch Menschen, die von ihrem Charakter aus zu menschenfreundlichen Gedanken tendieren und nach einer Einheit mit Etwas suchen, das möglichst groß und alles umfassend ist. Aus solch einer Veranlagung resultiert öfters ein Gefühl der Verantwortung für das Wohlergehen aller Bestandteile jenes großen Ganzen.

 

 

 

So veranlagte Persönlichkeiten können sowohl Literatur, als auch Philosophie wesentlich prägen. Zweifellos ist unter anderem solchen Persönlichkeiten zu verdanken, dass in vielen Bereichen der europäischen Literatur die Verantwortung des Individuums für sich selbst und für andere Menschen unzählige Male angesprochen wurde. Dabei spielten hier seit Verbreitung des Christentums religiöse Reflexionen eine sehr große Rolle. Aber trotz einer Unmenge von Aussagen zur Verantwortung und Verantwortlichkeit wurden diese Begriffe und Fragen im Laufe der Jahrhunderte nur selten zu einem Hauptthema in ernsten philosophischen Auseinandersetzungen. Das war auch einer der Gründe dafür, dass in diesem Vortrag ein Tragiker des alten Griechenlands einem modernen deutschen Philosophen begegnete. Aber auch deswegen kamen sie zusammen, weil vielleicht der eine dem anderen nochmals bestätigen wollte, wie alt und wichtig dieser Themenkreis ist.

 

 

 

Ein Vergleich wie dieser kann übrigens noch einem Ziel dienen: Er läßt uns einsehen, wie reich an gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen eine Philosophie der Verantwortung sein kann. Es ist kein Zufall, dass zu den leidenschaftlichsten Lesern von Aischylos' Dramen Karl Marx gehörte, der sie angeblich im Original sein Leben lang studierte. Auch heute kann ein solches Interesse an diesen Texten dem Vorhaben entsprechen, eine zeitgemäße Philosophie der Praxis zu entwickeln oder fortzusetzen. Denn allem Anschein nach wird eine stärkere Betonung der Verantwortung für wirtschafts-politische Systeme auch philosophisch an Bedeutung gewinnen. Dabei kann auch ein Paradigma des 'zuverlässigen Helfers', wie es der große polnische Philosoph Tadeusz Kotarbiński in seiner 'unabhängigen Ethik' entworfen hat, zu einer ganzheitlichen Theorie des verantwortlichen Handelns ausgebaut werden. Alles aber - unter der Bedingung, dass der Mensch daran wieder glaubt, politische Entwicklungen beeinflussen zu können. Auch derartige Überlegungen gehören zur Aufnahme des älteren und ältesten Gedankengutes durch spätere Generationen. Wie im Falle von Aischolos und Hans Jonas in diesem noch nicht gehaltenenVortrag.

 

 

 

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*Zu den wenigsten Autoren, die sich damit befassten, und zwar durch Erwähnung theologischer und potentiell philosophischer Begriffe bei Aischylos, gehörte Tadeusz Sinko, Zarys Literatury greckiej, tom 1, S.349-392.